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Leben in der Stadt
Radllust und Radlfrust
Von der Vorstadt nach Down Town an die Isar –
mit Zweirad und ordentlich viel Muskelkraft ist das in
München kein Problem. Wichtig nur: Jede Strecke hat
ihre eigenen Gesetze. goliving.de-Autorin Barbara Schulz
ist für Sie schon mal vorausgeradelt
A
uch ich bin eine von jenen, die der Kinder wegen
rausgezogen sind – in die Vorstadt. Die drei K‘s
(Kunst, Kultur und Kulinarik) kamen leider
nicht mit. Die Summe aus Parkplatzsuche, Unzumutbar-
keit nächtlicher MVV-Fahrpläne (und nichts ist weniger
prickelnd, als eine Party mit den Worten „Die letzte S-
Bahn geht gleich“ zu verlassen), plus einer gering ausge-
prägten Bereitschaft, 25 Euro fürs Taxi zu bezahlen, ließ
nur einen Schluss zu: selber treten. Also sagte ich Knöll-
chen und Cellulite adieu! Und genieße von nun an Stadt
und Natur pur! Eine klassische Win-Win-Situation.
Und noch einWin: Ich habe seit diesem Entschluss Ecken
von München gesehen, die ich mit dem Auto, geschweige
denn mit der MVV nie entdeckt hätte. Meine persönliche
Stammstrecke ist die West-Ost-Tangente. Also einmal
quer durchMünchens Stadtlandschaften. Vomdörflichen
Ambiente bis zu Downtown Maximilianstraße.
Die erste ländlich-urbane Offenbarung zeigt sich beim
Radeln unter einem Blätterdach durch Hartmannshofen.
Nußhäherstraße, Rehsteig, Eichgehölz – Idylle pur, die
das öde Wort Vorstadt vergoldet. Jenseits der Verdistra-
ße: die Schlossmauer. Und mit ihr die erste leise Ahnung,
dass Fahrradfahren in München nicht nur anatomisch
betrachtet eine durchaus sportliche Angelegenheit ist.
Kurzbehoste Helmträger, rasende Damenfahrräder plus
ihre Halterinnen, die mich schlichtweg übersehen. Im-
merhin: Wenn ich sie später überhole, ernte ich ungläu-
bige Blicke zunächst auf mich, dann auf mein Fahrrad –
nein, weder die eine noch das andere sind getuned!
Aber noch lass ich ihnen gern den buchstäblichen Vor-
tritt. Um in aller Ruhe den Moment zu genießen, wenn
Schloss Nymphenburg vor mir auftaucht. Das Beste hier:
Morgens ist da noch keiner, für den man auf knirschen-
den Kieswegen abrupt bremsenmüsste – offene Knie sind
dann vielleicht doch wenig sexy. Das kurze Stück Kopf-
steinpflaster beim Verlassen der Schlossanlage macht
richtig wach, so dass ich für die erste Rennstrecke gerüs-
tet bin: die Südliche Auffahrtsallee entlang des Kanals.
Schön, aber ohne Fahrradspur, und viel zu eng, um zuge-
parkt und zweispurig zu sein. Mit unausgeschlafenen Au-
tofahrern und ihrem Münchner Grant im Rücken mache
ich jetzt ordentlich Tempo. Nichts wie weg. An der Gerner
Brücke in den Grünwald-Park, Luft holen für die Asphalt-
Artistik, die die Nymphenburger Straße abverlangt. Für
den Schlagloch-Blues bis zum Königsplatz bleibt aber nur
wenig Zeit, denn der Radweg ist eng, aus jeder Ecke schie-
ßen Gleichgesinnte mit einem Höllentempo. Und sie wer-
den immer mehr und immer schneller. AmKarolinenplatz
und in der Brienner Straße dann – höchste Aufmerksam-
keitsstufe. Ein Fehltritt ist hier nicht zu empfehlen.
Endlich raus aus dem riskanten Mix aus Radlern in auf-
reizendem Schneckentempo und rasenden Fahrradkurie-
ren, geradeaus in den Hofgarten, direkt auf Otto von
Wittelsbach zu, der hoch zu Ross die Staatskanzlei be-
wacht. Als Endspurt noch ein kleines Workout: die Maxi-
milianstraße hoch zumMaximilianeum, am Landtag vor-
bei – das macht die Waden stramm.
Falls Sie jetzt Lust bekommen haben, die kleine Tour oder
eine ähnliche nachzutreten, so sei gewarnt: Bevor Sie ei-
nes der drei K‘s (Sie erinnern sich? Kunst, Kultur und Ku-
linarik) per Pedal ansteuern, empfiehlt es sich das Unter-
fangen als Gesamtpaket einzuschätzen. Zwei Einsichten
begleiten mich heute bei abendlichen Radl-Touren: Auch
ein perfekt sitzendes Stretch-Kleid folgte tretend den Ge-
setzen der Physik, die aber jene des Anstands gnadenlos
aushebelten – angesichts der freien Beinsicht nicht ganz
ungefährlich im fließenden Verkehr. Und voluminöse
Stoffmengen eines Abendkleids – Empire-Stil, weiß – ge-
hen gerne buchstäblich auf Tuchfühlung mit einer Fahr-
radkette. Die Folgen: Das Kleid war zerfetzt, meine Hände
schmierig-schwarz, die High-Heels aus demKorb gefallen
und – unter die Räder gekommen. Ohne Parkplatzsuche
war aber noch genug Zeit, ein neues Kleid zu kaufen, sich
die Hände zu waschen und auf das Einstimmungsschlück-
chen zu verzichten. Also Geld gespart, eigentlich. Weil:
Ein neues Kleid war eh längst fällig! Na also: Tret doch!